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Der Mythos von der Kernkompetenz

Aufgeschnappt – Interessantes aus der Welt der Schriftform

Der Mythos von der Kernkompetenz

Dr. Arno Rolf, Universität Hamburg:
Der Mythos von den Kernkompetenzen
Das scheinbar beruhigende Konzept der Kernkompetenzen zählt zu den unwägbarsten Mythen der Management-Literatur.

Einen wundervollen Artikel habe ich in der vorletzten Computerwoche gefunden – unbedingt zu empfehlen zum Lesen und zum Archivieren! Soviel Klarsicht habe ich lange vermisst in unserem verwöhnten, selbstzufriedenen, selbstmitleidigen Deutschland.

Wobei ich mich wie immer frage – Cui bono? Warum hämmern uns alle Medien ein, dass wir solche Versager sind, nichts zustande bringen und den „kümmerlichen“ Rest noch verlieren? Könnte es einfach sein, dass sie uns weich klopfen wollen, damit wir „länger arbeiten ohne Lohnausgleich“ und uns wieder fühlen wie im Mittelalter, als Leibeigene unserer Bosse, die göttlich verliehene Rechte an uns haben, sodass wir für jedes kleine Krümelchen, das wir selbst erarbeiten und ihnen nicht abzuliefern haben, sogar noch dankbar sein müssen? Dass wir ihnen Gehorsam leisten und dafür auf Befehl sogar Freund und Familie verkaufen, weil wir Gott zu geben haben, was Gottes ist und dem Kaiser, was des Kaisers ist – und niemals fragen, was denn eigentlich noch uns ist?

Eine ähnliche, wenngleich nicht ganz so renitente Frage stellt auch Prof. Rolf in seinem Artikel „Das riskante Spiel mit dem Outsourcing“ (CW 27/2004, S. 48). Er fragt sich, wieso entgegen aller bereits vorhandenen Erfahrung Offshore-Projekte immer noch so leidenschaftlich angestrebt werden und hegt wohl einen ähnlichen Verdacht wie ich gegenüber den Medien – ein Verdacht, der aus der aktuellen Erfahrung mit Amerika erwachsen muss: Dort glaubt tatsächlich eine überwiegende Mehrheit an puren Schwachsinn, der von der ganzen übrigen Welt nur mit ungläubigem Kopfschütteln beantwortet werden kann, weil die ganze übrige Welt eben nicht unter der Dauerberieselung der amerikanischen, quoten- und geldgierigen Medien steht, für die nichts zählt außer Profit: keine Wahrheit, keine Zukunft, kein Anstand, nichts außer Profit.

Und weil Profit aus Quoten stammt und Quoten von neugierigen Käufern geliefert werden, könnte es eben gut sein, dass auch die deutschen Tageszeitungen den Offshore-Mythos vorwiegend deshalb vertreiben, um ihre Auflagen zu steigern mit einem uralten, immer funktionierenden Versprechen: riesige Gewinne ohne Gefahren.

Das Übliche halt.

Nichts arbeiten und trotzdem Kohle machen – letztendlich ein biologisch verankerter Trieb, der aus nichts weiter als dem Energieerhaltungssatz kombiniert mit dem Überlebensinstinkt stammt: weil Überleben Energie kostet und weil Energie sparen damit länger überleben bedeutet. Energie fremder Lebewesen für sich zu nutzen, ist dabei noch eine Stufe besser als Energie sparen, denn es verschafft dir noch Ressourcen, für die andere Energie aufbrachten: das Grundprinzip der Existenz von Tieren, von Raub und Krieg.

Und noch einen Tick besser ist es, wenn du deine Feinde ausnützt, weil dann deren Energieverbrauch dir nicht nur nützt, sondern ihnen natürlich auch insoweit schadet, dass sie keinen Erfolg mit ihrem Einsatz haben. Auch dieses Verfahren wird in der Natur gerne praktiziert.

Also eine sehr viel versprechende Strategie, nicht wahr?

Tageszeitungen, die die im Management verbreitete Geiz-ist-geil-Mode, wie es Prof. Rolf so treffend bezeichnet, schlicht und einfach für sich ausnützen, in dem sie den Managern erzählen, dass sie viel größere Gewinne einstreichen können, wenn sie die Arbeit verbilligen, nutzen genau dies aus, indem sie die so sehr geliebte Strategie, andere auszunutzen, für sich verwenden und behaupten, das Rezept dafür gefunden zu haben.

Diese Strategie ist schließlich allen bekannt, nicht wahr? Ist auch kein Wunder, wird seit 20 Jahren systematisch in Amerika als „Wissenschaft“ verbreitet, ohne dass einer der verbreitenden Wissenschaftler seine Pflicht und Schuldigkeit tut und fragt, warum seine gut bezahlenden Mäzene so großzügig Universitäten und Forschungslabors unterstützen, um „wissenschaftliche“ Ergebnisse zu erzielen, die so ganz nebenbei die eigenen Gewinne steigern.

Hier – und im Amerika von George W. Bush – sehe ich auch den einzigen Punkt, den ich im Artikel von Prof. Rolf nicht unterschreiben würde: dass Amerikas Eliten soviel umfassender und kreativer gebildet sind als wir. Wie, so frage ich, konnten sie dann den aufkeimenden Faschismus drüben dulden?

Aber gut, das ist kein Punkt, der nur eine einzige Aussage von Prof. Rolf in Frage stellt, denn was er damit sagen wollte, war einfach, dass, Bildung universell sein muss. Sie muss nicht nur Fachwissen aufbauen, sondern eben auch das Urteilsvermögen insgesamt fördern. Niemand kann Innovationen richtig einstufen, der nicht fähig ist, über seinen eigenen, engen Tellerrand zu schauen.

Und ohne Innovationen – keine Zukunft. Diese Aussage trifft Prof. Rolf klipp und klar und erstaunlich direkt, wenn berücksichtigt wird, dass er es nicht nur als Lippenbekenntnis von sich gibt, wie es so viele andere so gerne tun. Wozu solch ein Lippenbekenntnis gut sein sollte? Um Steuergelder für die Forschung zu ergattern oder eben auch Lohnverzicht von Mitarbeitern zu verlangen, damit im Ausland teure Wissenschaftler bezahlt werden können, weil wir in Deutschland keine qualifizierten Leute haben.

Denn selbstverständlich findet sich „Intelligenz“ in Deutschland nicht. Wir sind nämlich Klein-Dumm-Deutschland, beschränkt, „wohlstandsstaatlich“ (soll heißen: verwöhnt, verantwortungslos, vom Staat schmarotzend), rückständig, zum schlechten Gewissen gegenüber unseren Führern allein schon durch unsere kostenträchtige Existenz verurteilt – und nur unsere „amerikanisierten“ (konservativen) Politiker mit Luxusrenten auf Staatskosten und Konzernbosse, die das Vielhundertfache unserer Gehälter kassieren, sind gegen diese „Krankheit Deutschtum“ gefeit und haben somit geradezu die moralische Pflicht, uns „Deutschgebliebene“ zum Verzicht zu bewegen, während sie zweistellige Zuwachsraten in ihren Gehältern oder „angemessene“ Spesenentschädigungen fordern. Klingt irgendwie widersprüchlich, wie?

Doch leider, so meint Prof. Rolf, überschätzen sich unsere Bosse in Bezug auf Innovationsfreude und Kreativität wohl ein wenig. Denn, so vermute ich, dazu darf man nicht Trieben folgen wie der homo oeconomicus (Carl Amery), dazu muss man eben alte Pfade verlassen, Neues entwickeln – und dazu braucht es Neugierde, Mut und die Fähigkeit, Fachgrenzen zu überschreiten, stellt Prof. Rolf fest und meint sogar, dass Bildung die Persönlichkeit entwickle und somit einen eigenen Wert haben.

Lieber Prof. Rolf, rein theoretisch gebe ich Ihnen absolut Recht – doch rein praktisch sieht die Welt in unserem Deutschland längst anders aus. Wir sind längst „gar keine Deutschen“ mehr, kein Volk der Dichter und Denker, sondern verhalten uns, wie es in Amerika üblich ist: jeder für sich, wenn es einen erwischt, ist er selbst schuld, man muss schon sehen, wo man bleibt. Sehr praktisch, weil es niemanden zur Hilfe für Versager (in früherem Wortgebrauch als „Hilfsbedürftige“ bezeichnet) verpflichtet und Leichenfledderei zur Tugend macht.

Alles, was keine Kohle bringt, taugt nichts. Bildung ist schlicht überflüssiger Luxus, der Zeit kostet und im besten Fall die Karriere nicht behindert. Das gilt nicht nur für Bosse und Universitäten, das gilt auch für den Mittelstand und jeden einzelnen Angestellten hierzulande.

Ich weiß das, denn ich bin das lebende Gegenbeispiel: Ich bin gebildet, ich kann Dinge beurteilen, die „weit entfernt“ von meinem Fachgebiet liegen, ich kann Innovationen abschätzen, ob sie Zukunft haben oder nicht...

ich habe eine funktionierende (!), sprich programmierbare Definition der Information aufgestellt, die viele Dinge unserer physikalischen und menschlichen Welt einsichtig macht (und damit viele betriebswirtschaftlichen Entscheidungen, die schnell, schnell getroffen werden müssen, nachhaltig unterstützen könnte), ich habe eine Methode entwickelt, die automatisierbar die Analyse unterstützen...

aber im normalen Arbeitsleben „störe“ ich damit nur und schweige deshalb. Man darf seine Schwächen schließlich nicht so offen legen, nicht wahr? Innovation stört doch nur den gewohnten Arbeitsablauf, Kinder! Das haben wir noch nie so gemacht!

Denn im betrieblichen Alltag heißt es, kurzfristig Profit zu machen und nicht zu fragen, warum etwas getan wird, wenn es Kohle bringt - nicht zu fragen, wie es besser gemacht werden kann, wie es sich zukünftigen Anforderungen gegenüber verhalten wird – das hat keinen sichtbaren RoI innerhalb der nächsten zwei Monate. Genau das ist auch der Grund dafür, weshalb Offshoring so gierig verfolgt wird, denn es hat einen tollen RoI. Weil Statistiken immer abhängig von den Menschen sind, die sie erstellen. Und wer Offshoring in seinem Haus durchgesetzt hat, der ist zum Erfolg verpflichtet und wird genau deshalb den Erfolg zu verkünden wissen, bis ihm das Gegenteil nicht nur plausibel gemacht, sondern Schwarz auf Weiß nachgewiesen wird.

Die Mär von der billigen Arbeit ist doch auch zu schön! Wer will den sehen, dass Arbeit an Menschen hängt und damit niemals völlig austauschbar wird?

Andererseits - wer glaubt denn eigentlich, dass Einstein durch Herrn Schmidt hätte ersetzt werden können?

Aber natürlich sind unsere Angestellten keine Einsteins, sondern „Kapital“, anonymes, austauschbares, standardisierbares Kapital, das genauso gut in Indien eingekauft werden kann wie in Deutschland. Erinnert schon sehr an alte Sklavenhalter-Mentalität, wie?

Wer das nicht unbesehen glaubt?

Prof. Rolf. Er sieht deutlich, dass die Menschen nicht nur „Hände“ sind, wie der amerikanische Ausdruck „Hands“ es so trefflich suggeriert, sondern dass sie auch Köpfe haben. Und dass Arbeit immer durch diese Köpfe hindurch geleitet wird oder mit anderen Worten: Wer die Arbeit ordentlich tun soll, muss wissen, was er zu tun hat.

Und weil ein Hirn wie ein Muskel ist, erschlafft es eben auch, wenn es nicht benutzt wird – die umgekehrte Aussage ist deshalb genauso richtig: Wer eine Arbeit nicht tut, weiß eben auch nicht im Detail, wo ihre Probleme und Feinheiten liegen. Prof. Rolf bringt dies glasklar auf den Punkt: Man beherrscht sein Business und seine Prozesse nicht mehr, weil man niemanden mehr hat, der sich auskennt.

Da fragst du dich doch, wieso so wenige diese einfachen Wahrheiten sehen können? Prof. Rolf lehrt hier schließlich keine Quantenphysik, es ist letztendlich nichts weiter als gesunder Menschenverstand, den er hier offenbart.

Deshalb drängt sich die Frage auf nach dem Cui Bono derjenigen, die den gesunden Menschenverstand verachten - die Antwort scheint wie immer zu sein: „Gier frisst Hirn“.

Es sieht doch schlicht danach aus, dass deutsche Bosse ihr eigenes Versagen im Ausland ständig vergessen. Dass sie im Ausland immer wieder vorführen, wie einfach man sie an der Nase herumführen kann – Stichwort Rover oder Chrysler. BMW-Mitarbeiter mussten wegen Rover zeitweise um ihre Firma fürchten, Mercedes-Benz-Mitarbeiter in Deutschland müssen schuften und verzichten wegen der üppigen Altersvorsorge der Chrysler-Mitarbeiter im fernen, glorreichen USA – war das nicht so? Aber natürlich wollen die Bosse auch ihre zweistelligen Wachstumsraten in den eigenen Gehältern erhalten, das ist doch verständlich. Zeigt ein bisschen Mitgefühl für die armen Reichen! Also esst Kuchen, ihr Bauern, wenn ihr kein Brot mehr habt!

Und wie war das noch mit der Maut? Wie mit Fiscus, wie mit Herkules? Wovon denken die Bosse eigentlich, ihre dicke Kohle zu kassieren, wenn sie Deutschland verraten und verkaufen? Glauben sie tatsächlich, das eigene Spiel so nett in Indien und China weiterspielen zu können?

Hat ihnen noch niemand gesagt, dass auch die Chinesen denken, dass alle anderen nur zum Ausbeuten gut sind und dass die „Barbaren“ gar nichts Besseres verdienen? Dass jeder dumme Ausländer, der sich vom Land des Lächelns hereinlegen lässt, gerade selbst dran schuld ist?

Wieso glauben unsere hiesigen Bosse, ihre in Deutschland, höchstens noch in USA entwickelten Verhaltensmuster würden in anderen Kulturkreisen überhaupt funktionieren – ohne die heimische Marktmacht? Hätten diese Bosse ein wenig Psychologie, Philosophie und Geschichte in ihren Studien gehört, wie es Prof. Rolf vorschlägt, wären sie sicher vorsichtiger mit ihrer Annahme, sie könnten ihr Business mitsamt seiner für sie so lukrativen Struktur von der Basis der Mitarbeiter und Käufer lösen und frei in beliebige andere Kulturkreise verschieben.

Denn das müssen sie doch wohl glauben – wenn sie dies nicht einfach so als gegeben annehmen würden, müssten sie sehen, dass ihre eigene Existenz von ihrem eigenen Kulturkreis in bedeutendem Maße abhängt und dass die Erhaltung derjenigen Welt, aus der sie stammen, zu ihrem eigenen Nutzen ist.

Mutter Natur hat uns das als Herdentrieb in unsere Instinkte gepflanzt, diese schlichte Erkenntnis, dass gerade Kultur-Tiere niemals alleine existieren können, weil nicht nur ihre Verhaltensweisen, sondern ihre ganzen Körper auf die Mithilfe der anderen eingestellt sind.

Nun ja, unsere Bosse glauben das wohl nicht. Ihre Untertanen haben für ihre Arbeitsplätze so dankbar zu sein, dass sie am besten freiwillige Sklavenarbeit leisten, während die höchsten Führer soviel Reichtum scheffeln dürfen, dass es das Bruttosozialprodukt kleiner Staaten übertrifft - und das mit der Begründung, sie sorgten für die Arbeitsplätze: die im selben Moment zu Zigtausenden vernichtet werden, während Buchhaltungstricks die Kleinaktionäre um ihr Geld bringen? Karl Marx lässt grüßen.

Doch nicht nur diese Widersprüche können Bosse unbekümmert übersehen. Sie, deren Leitungsfunktion sie so wertvoll macht, dass sie über allen anderen Untertanen stehen, die als Wegweiser in die Zukunft und als leuchtende Vorbilder an Fleiß und Motivation dienen, sind erstaunlich „fantasielos“ in technischen und sozialen Innovationen, stellt Prof. Rolf fest.

Innovation – wieder nur ein Lippenbekenntnis derjenigen, die wissen, mit welchen Worten sich zu welcher Zeit an welchem Ort am besten manipulieren lässt. Innovation ist für solche Leute schlicht kein Zweck, um erfolgreich in die Zukunft zu streben, sondern nur ein Mittel, um andere Leute zu etwas zu überzeugen, das kaum den anderen Leuten Nutzen bringen soll – dafür aber den Manipulatoren.

Dass dem so ist, sieht man am besten, wenn man die Logik dieser Leute durchforstet – denn nicht das, was sie sagen, verkündet die Wahrheit über ihre Gedanken, sondern das, was sie tun. Das hat den ganz einfachen Grund, dass Reden nicht logisch sein muss, Handeln aber schon. Niemand kann gegen die Physik etwas bewegen in dieser Welt und Physik ist in sich konsistent, auch wenn nicht immer verstanden wird, wie und warum etwas geschieht.

Die Gedankenkomplexe derjenigen, die nun nichts weiter wollen, als noch mehr Geld für sich selbst zu erhalten, indem sie einfach „ihr Business“ ins „billige Ausland“ verschieben, entbehren genau deshalb bei genauem Hinsehen jeglicher Logik – weil es schließlich weder dem Business noch dem Kulturkreis dient, was sie tun, wie sie es vorgeben, sondern nur sich selbst.

„Mythos“ nennt dies Prof. Rolf, auch wenn er die Sache längst nicht so zynisch wie ich sieht hinsichtlich der Selbstbedienungsmentalität unserer Rasse.

Die Leute, die Arbeit verlagern und damit Wissen, bagatellisieren diesen bedeutenden Verlust dadurch, dass sie von „Kernkompetenzen“ sprechen, die angeblich im Lande verbleiben und die restlichen Arbeitsplätze sichern sollen.

Ein wenig ironisch fragt Prof. Rolf denn auch, wie denn Kernkompetenzen ohne Forschung und Entwicklung existieren können, die oft in toto ausgelagert werden. Außerdem stellt er lapidar fest, dass Kernkompetenzen sich sowieso oft erst im Nachhinein feststellen lassen. Gerade in der Informationstechnologie ist dies eine unbezweifelte Erkenntnis – es ist schließlich die Strategie von Microsoft®, andere ausprobieren zu lassen, wie erfolgreich eine Innovation ist, und eine „Kernkompetenz“ erst zu inkorporieren, wenn sie diese Prüfung durch „andere“ bestand.

Oder einfach ausgedrückt: Die Kompetenz, die ich heute nach Indien auslagere, kann in Kombination mit neuen Erkenntnissen und anderen Fachgebieten genau diejenige sein, die mich morgen mit ihren Erträgen über Wasser hält. Man denke an Fax, MP3 und Flüssigkristallbildschirme, die in Deutschland entwickelt wurden, aber woanders Gewinne einfuhren, wie Prof. Rolf bemerkt. Doch auch die IBM kann viele solcher vernachlässigter und deshalb verschenkter „Erfolge“ aufweisen: vom PC über die GUI bis RISC durchlief vieles ihre Labors, was von ihren Bossen als „unrentabel“ eingestuft wurde, nicht würdig also, „Kernkompetenz“ zu sein, bis es woanders Milliardäre schuf.

Der Mythos von der Kernkompetenz – was für ein treffender Ausdruck! Und was für ein nebulöser dazu, denn so recht kann es keiner definieren, was diese „Kernkompetenz“ denn sein sollte, wie? Doch nicht nur nebulös, auch höchst riskant, gar Illusion nennt es Prof. Rolf mit bewundernswürdiger Klarheit.

Und er sieht die Gefahren, die aus dieser kurzfristig von Geldgier dominierten Sicht der Dinge resultiert: Wir als Nation verlieren nicht nur Forschungs- und Entwicklungs-Infrastruktur in großem Maße, wir verschenken auch durch die Niedrigschätzung von hoch qualifizierten Leuten, die sich in entsprechend geringem Gehalt und Förderungsmöglichkeiten äußert, auch junge Leute an die amerikanischen Universitäten, zumindest jetzt noch. Wenn die Wissenschaftsfeindlichkeit weiter so ansteigt in Amerika, mag sich dies ändern, doch bis dahin locken Förderungsmittel und modernste Arbeitsbedingungen.

„Der sicherste und schnellste Weg in den ökonomischen Abgrund“ nennt dies Prof. Rolf.

Eigentlich ist es nichts mehr als eine Schande, dass er das überhaupt aussprechen muss – dass hier überhaupt der leiseste Zweifel herrschen könnte, dass dies nicht sofort auf ungeteilte Zustimmung von allen stößt.

An und für sich, so meint er gar, könnte man sich das Geld für Schule und Universitäten sparen angesichts dieses geballten Mordanschlags auf unsere Zukunft – die Konservativen werden’s gerne hören. Wenn sie die nächsten 20 Jahre an der Regierung sind, gestützt von den quotengierigen Tageszeitungen, werden sie genau das nämlich zuerst tun: an der Bildung sparen. Zuerst wird die Kleinkindbetreuung gestrichen, dann die Kindergärten reduziert, dann die Schulen ausgehungert und am Ende die Universitäten – haben wir alles unter Kohl bereits mitgemacht und der Schaden wird genauso wenig reparabel sein, wie der, den die Kohl-Ära uns zufügte: Pisa ist kein unvorhersehbares Unglück gewesen unter diesem historischen Blickwinkel.

Vielleicht rührt daher ja auch diese Fokussierung der Ausbildung auf Fachwissen?

An meiner Universität gab es auch ein Studium Generale – das gibt es überall. Doch wer zügig durch die Universität muss, wer nicht einfach so „studieren für die Persönlichkeit“ darf, weil die Personaler nur denjenigen einstellen, der den Wettlauf um die Noten in der kürzesten Zeit schafft – der wird seine knappe Zeit eben nicht an „Unnützes“ verschwenden.

Und auch die Personaler – und die Mittelständler – und die Abteilungsleiter, die alle nur Fachwissen präferieren, tun dies aus gutem Grund: Denn nur Fachwissen ist richtig schön einfach in Schablonen zu pressen, nur mit Fachwissen kann man seine Untertanen selektieren, kontrollieren und ohne deren eigene „störende“ Mitgedanken zur Arbeit verpflichten.

Auch das – eigene Erfahrung.

Das ist nichts weiter als das Dominanzverhalten von Alphas und Möchtegern-Alphas, wenn ich Konrad Lorenz recht in Erinnerung habe – biologischer Trieb und deshalb nur mit Verstand und Selbstkritik zu überwinden.

Und genau hier hakt es doch bei fast allen, die ich und du kennen, nicht wahr? Selbstkritik ist die höchst entwickelte intellektuelle Eigenschaft, die unser Gehirn lernte, sie ist der Grund für die Ausbildung des Abbildungsteils in unserem Kopf, den wir „Ego“ nennen. Denn nur, wenn wir uns selbst korrekt einschätzen, können wir beurteilen, ob wir die äußeren Ereignisse richtig verstanden haben – und nur, wenn wir sie richtig verstanden haben, nützen sie uns, ansonsten spinnen wir uns etwas zusammen, geblendet von unseren Trieben und Wünschen. Da aber jede Information die Prognose verbessert (Bertrands Paradox) und umgekehrt jede fehlende Information sie verschlechtert, wird mit Informationen auch immer die Qualität von Entscheidungen beeinflusst. Und um die Entscheidungen so erfolgreich wie möglich zu machen, führte unser Gehirn das Ego und damit zwangsweise Selbstkritik ein.

Schade, dass wir das nie nutzen.

Und eigentlich ist es dann sehr einsichtig, warum „wir“ lieber outsourcen als technisch und sozial innovativ zu sein, wie? Denn Ersteres braucht weniger Gehirnschmalz und bringt, zumindest kurzfristig, den auf Selbstkritik so gerne verzichtenden Bossen mehr Kohle – ein wunderbares Geschäft.

Und weil die Bosse alles am besten wissen, müssen sie auch nicht auf ihre Untertanen hören – ob die nun die Definition der Information aufstellen und Methoden entwickeln, wie man anfangen kann, das Denken zu automatisieren, das Fax erfunden haben oder den Flüssigkristallbildschirm, ist völlig belanglos. Wenn der Herr sagt, dies sei nicht profitabel, dann ist das so. Punkt. Und genau derselbe Fehler liegt auch dem Desaster mit der Maut zugrunde.

Tja, die Selbstkritik.

Mutter Natur hat sie nicht umsonst erfunden.

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© bussole IV 2004 (außer Zitate)

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