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Außenseiter
Wie war das mit der LKW-Maut?
Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus
Das vorletzte Schwein
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Urteil und Vorurteil
Internet und Open Source: Der Krieg ist nicht der Vater aller Dinge
Bananenhaufen
Konzerne und Mittelständler
Spiegelsaal
...was Business Intelligence (BI) mit Bertrands Paradox zu tun hat?
Häuptling Däumling
Selbstverständlichkeiten
Religion – Alpha aut Omega?

Wussten Sie auch das schon?

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Spiegelsaal

oder: Größe ist nicht immer ein Vorteil

Wenn schon wir die Unwägbarkeiten des Lebens nicht im Griff haben, denn eben die Götter. Wir verstehen sie zwar nicht, aber es läuft trotzdem alles nach Plan – der Witz dabei, wenn nicht du gar nicht selbst die Herrschaft über das Geschehen hast? Du brauchst dir einerseits Zufälle nicht zu erklären, die du nicht im „Wissen“ hast und kannst andererseits dennoch unbesorgt sein, weil immer noch „Irgendjemand“ das leistet. Und das genügt doch! Denn bei diesem Jemand kannst du dich anbiedern und das hast du als Kind gelernt

Und noch eine Quelle ist mir entgangen (wäre dankbar um Hinweise): In irgendeiner Reportage las ich einmal die Geschichte eines Entthronten: ein Top-Manager, der die Story seines überwältigenden Erfolgs und seines totalen Absturzes erzählte. Abgeklärt berichtete er von den Versuchungen der Macht, von den Intrigen und Hahnenkämpfen, die zentraler Bestandteil der Führungsriege seien und erzählte auch von dem alles verschluckenden Puffer, der sich um Spitzenleute aufbaut.

Er nannte dies das „Spiegelsaal-Phänomen“ – weil du da oben, fernab von den Niederungen des Alltags, wie in einem großen Raum ohne Fenster, dafür voller Spiegel existierst. Du kannst nichts mehr sehen von der Welt da draußen, immer nur dein eigenes Spiegelbild, weil alle Leute um dich herum versuchen, es dir Recht zu machen, Widrigkeiten fernzuhalten und nach deinem Mund zu reden: Bananenhaufen-Effekt.

Er gab meiner Erinnerung nach auch unumwunden zu, diesem Spiel selbst mit Haut und Haaren verfallen zu sein. Macht korrumpiert und das mit einer Konsequenz, die auf biologische Gründe hinweist. Macht verschafft dir, wie allein die Sprache nahe legt, die Möglichkeit, deine Umwelt zu verändern, zu „machen, was du willst“ – und das ist schließlich ein ganz entscheidendes Kriterium des Überlebens. Denn alle Lebewesen sind Informationsverarbeitungen und unterziehen sich der Mühe der Aufnahme und Bewertung von Information, ob dies nun aktiv oder passiv geschieht, nur aus einem Grund: Sie wollen auf das, was um sie herum vorgeht, „richtig“ reagieren. Und richtig heißt: in ihrem Interesse. Sie wollen überleben und das so lange wie möglich. Das wiederum heißt klipp und klar, dass sie a) sowohl die bestmöglichen Entscheidungen treffen wollen als auch b) diese ihre Entscheidungen so effektiv als möglich durchsetzen wollen.

Und hier ist dann das Streben nach „Macht“ schon zu finden: auf einer so evolutionär frühen Entwicklungsstufe, praktisch direkt hinter dem Überlebenstrieb positioniert. Jede Informationsverarbeitung versucht, ihre Interessen zu „realisieren“, sprich über ihren eigenen Dunstkreis hinaus in der Umwelt „da draußen“ Bestand zu verschaffen. Passive IVs können dies überwiegend nur durch ihre eigene Anpassung an die Gegebenheiten dieser Umwelt erreichen. Sie nutzen dadurch die externen Vorgänge so gut als möglich zu ihrem eigenen Vorteil.

Aktive IVs jedoch können noch weitaus weiter gehen.

Physik der Information, ISBN 3-935031-03-3,
Informationsverarbeitung, Realität und Rückkoppelungseffekte, S. 229

„Das ändert sich jedoch bei aktiven Informationsverarbeitungen, denn sie erzeugen zeitgenaue Information, die sie wiederum beobachten und damit dem eigenen Verarbeitungssystem wieder zuführen können und vor allem: deren Ergebnisse auf die Umwelt sie registrieren und weiterverwenden können. Die Abgabe von Information kann deshalb zu größerer Bedeutung gelangen als die Aufnahme von Information.

Information ist immer wirklich, sie ist Wirkung, Wertveränderung – aber sie ist bei Vorhandensein von Informationsverarbeitung möglicherweise nicht mehr von dieser objektiven, unbeeinflussten Zuverlässigkeit der Naturgesetze, die für das Entstehen der Informationsverarbeitungen so nützlich war.

Wahrheit“ und „Wirklichkeit“ im Sinne von unbeeinflusster Realität sind spätestens mit aktiven Informationsverarbeitungen passé.

68. Spektrum der Wissenschaft, 2/2000, „Ameisen als Sklavenhalter“, Howard Topoff, S. 60 [Literaturverweis mit Zitat]

Auch wenn Ameisen nicht gerade das Paradebeispiel lernender Individuen sind, so genügt bereits ihre einfache Prägbarkeit, um sie zu „belügen“. Die Lüge ist dabei ganz wirklich, ist echte Information: Es ist die Chemie der Sklavenhalter, die ähnlich genug der der Sklaven ist, um in diesen Tieren über den Prägevorgang den Mechanismus der Dienstbarkeit auszulösen. Wobei dies eigentlich ein nützlicher, evolutionär entwickelter Mechanismus der Sklavenrasse ist, der die Ameisen zu einem Teil ihrer eigenen Gruppe machte und damit das Überleben der gesamten Art gewährleistete.

Doch das Ziel der Sklaven war wie alle Ziele von lebendigen Informationsverarbeitungen das bestmögliche eigene Überleben und das der eigenen Art. Deshalb differenzierten sich die Ameisen in Königin, Soldatinnen und Arbeiterinnen, um sowohl dem einzelnen Individuum als auch der gesamten Art die bestmöglichen Voraussetzungen zu schaffen, die Zeit zu überdauern.

Die Sklavinnen dieser Amazonen-Ameisen jedoch sorgten für das Überleben einer anderen Art.

Das Interessante dabei sind zwei Punkte: Erstens war das Überleben des Individuums nicht gefährdet durch diese Versklavung und zweitens war es die Lernfähigkeit der Sklavenrasse, die ihre Ausnutzung durch die fremde Art erst richtig effektiv machte.

Die Amazonen-Ameisen selbst folgten nämlich nur den weitaus niedrigeren Anforderungen der passiven Informationsverarbeitung. Sie berücksichtigten wohl keineswegs die individuelle Situation, wie experimentelle Versuche nahe legten. Sie folgten ihrem festen Verhaltensmuster, ob die Umgebung nun günstig für sie war oder nicht. Nur die Prägbarkeit der Sklavenrasse führte zu dieser für die Amazonen so nützlichen Wiederholbarkeit, dass die geraubten Puppen der Sklaven ihnen als erwachsene Tiere genauso treu dienten wie einer eigenen Königin.

Information als zyklisches, identifizierbares Verhalten hatte spätestens mit den Anfängen der aktiven Informationsverarbeitung also eine dritte Qualität angenommen – das Subjekt des Senders.“

Aktive IVs können lügen, weil sie ein auf individueller Erinnerung beruhendes Echtzeit-System der Informationsverarbeitung besitzen. Und sie tun es. Sie tun es, so schnell es ihnen möglich ist. Sie tun es, weil es ihnen einen Vorteil verschafft.

Cui bono.

Physik der Information, ISBN 3-935031-03-3,
Die drei Stufen der Realität: der Vormarsch der Subjektivität und das Gesetz der Rückwirkung, S. 234

„Bezweckte Information folgt selbstverständlich ebenfalls dem Prinzip der geringsten Wirkung und auch sie wird durch das Paradox von Bertrand beschrieben. Sie hat nur einen großen Nachteil für die Empfänger dieser Wirkung:

Sie haben weniger Informationen als die Sender.

Deshalb sind ihre Prognosen schlechter als die der Sender – deshalb können die Sender die Situation besser vorhersagen und passendere Entscheidungen treffen als die Empfänger.

Bezweckte Wirkung ist sozusagen „gerichtet“.

Erinnern Sie sich an den Zusammenhang von Wahrscheinlichkeit und Information? Je weniger Information über das Verhaltensrepertoire einer Situation vorliegt, umso mehr kann sie nur über Wahrscheinlichkeiten ihrer Zustände beschrieben werden. Liegt gar keine Information vor, werden alle Zustände als gleichwahrscheinlich angesehen.

Für die Sender bezweckter Information liegt durch ihre bessere Kenntnis der Situation – und sei es auch nur die, dass sie selbst die betreffende Information für ihre Ziele aussenden – eine Vorentscheidung hinsichtlich des Wirkungsgefüges der aktuellen Situation vor. Sie beeinflussen das Wirkungsgefüge in einer Form, die den minimalen Verlauf in eine Richtung führt, die ihren Zielen mehr verspricht als andere. Vielleicht erzeugen sie gar Hindernisse, die den Weg des geringsten Widerstandes erheblich verlagern, eines tun sie jedoch sicher: Sie beschränken die Vielzahl an Möglichkeiten, die die unbezweckte Information erlaubt. Der Verlauf der Situation ist danach an ihren individuellen Zielen orientiert.

Um die gesamte Formation von Werten und Wirkungen umfassend einzuschätzen, die eine Situation der empfangenden Informationsverarbeitung anbietet, muss bei Vorhandensein von bezweckter Information nun auch der Zweck in Betracht gezogen werden. Dieser Zweck beleuchtet schließlich die Richtung der Wirkung, die die Sender mit ihrer höheren Kenntnis der Situation und besseren Prognose für deren Verhalten vorhergesehen haben.

Und wer sich solchen besseren Kenntnissen anschließt und sie übernimmt, kann nur gewinnen, teilt uns das Paradox von Bertrand mit.

Cui bono wird zu einer zentralen Frage im Umfeld von Informationsverarbeitungen.“

In der Realität dritter Stufe, also solcher unter Vorhandensein aktiver Informationsverarbeitung, ist deshalb die Frage nach dem Ursprung von Informationen zentral und nicht nur für Menschen.

Sogar die Amazonen-Ameise versucht schon, Macht über andere zu erhalten, einfach deshalb, weil es ihnen selbst Arbeit erspart – die wiederum Aufwand erfordert, der mit Energiezufuhr gewährleistet werden muss, was wegen des Energieerhaltungssatzes niemals umsonst sein kann: deshalb auch der Trieb „Faulheit“, der nichts weiter als „Energiesparen“ bedeutet -, eine Arbeit, die sie sonst selbst aufbringen müssten, um für sich und ihre Nachkommenschaft das Überleben zu sichern.

Dieser archaische Trieb zur Macht ist aber nur eine Seite der Medaille, so wie alles, was Information betrifft, zweiseitig ist.

Die zweite Seite ist die merkwürdige Bereitwilligkeit der „Sklaven“.

Bei den Amazonen-Ameisen ist dies noch nachvollziehbar: Ihre Sklaven sind schlicht zu dumm, das Spiel zu durchschauen, ein Spiel, das ihnen zwar Schaden zufügt, doch wohl offensichtlich nicht genug, damit die Rasse der Sklavenameisen daraus lernen könnte.

Wieso aber funktioniert es beim Bananenhaufen? Bei Schimpansen, die sehr wohl mit Menschen vergleichbare Intelligenz aufweisen? Und wieso gar funktioniert der Bananenhaufen – und sein Extrem „der Spiegelsaal“ – bei Menschen so total, so überwältigend effektiv, dass seit der Einführung der Landwirtschaft keine Demokratie überlebensfähig war?

Auch hier wirkt der Trieb „Faulheit“, um Ressourcen zu sparen, ganz genauso wie bei den Sklavenhaltern: Anstatt zu arbeiten, kann man sich ja auch unterwerfen und um Bananen betteln, kostet weniger Mühe. Tatsache ist jedoch, dass in der „freien Wildbahn“ keine Bananenhaufen offen herumliegen, dass irgendjemand sich eben die Mühe gemacht haben muss, diese Bananen zu sammeln.

George Bernard Shaw, 1856-1950:
A government that robs Peter to pay Paul can always depend on the support of Paul.

Beta-Männchen und mit Sex lockende Weibchen folgen genau dem Prinzip: Der starke Alpha, der die Macht hat, sich alles zu nehmen, was ihm beliebt, soll es auch für sie tun. Er soll eben nur ein bisschen mehr stehlen, als er braucht, und sie damit für ihre Unterwürfigkeit bezahlen.

Kostet sie immer noch weniger, als sich selbst die Bananen zu suchen und zu sammeln, gegen Räuber zu verteidigen und dabei noch sich und ihre Nachkommen zu beschützen.

Funktioniert gar bis in die Welt des Denkens hinein: Unsere Realität, längst schon dritte Stufe, ist voller Informationen, die wir allesamt eigentlich berücksichtigen müssten, um die für uns besten Entscheidungen zu treffen. Wir alle wissen seit Jahrtausenden freilich, dass dies längst selbst unser mächtiges Gehirn übersteigt. Doch weil die Alpha-Männchen uns so nett beschützten, als wir noch Affen waren, weil sie uns immer wieder ein paar Brosamen ihres Reichtums überlassen, erhoffen wir von ihnen auch Schutz und Versorgung in unseren menschlichen Lebensräumen. Wir erhoffen von ihnen die Übersicht über diese Unendlichkeit von Ereignissen, über diese ständige Unsicherheit der Dinge, über die ewig lauernden Bedrohungen der Außenwelt, die wir längst nicht mehr aufbringen. Und dafür sind wir bereit, alles zu tun.

Wir haben keinen Stolz, keine Ehre, keine Freunde, wenn uns nur ein Alpha beschützt und gelegentlich beschenkt. Wir müssen so sein, denn unser Gehirn sagt uns, dass wir dem Paradox von Bertrand folgen müssen, um zu überleben, um die richtigen Entscheidungen für unser Wohl zu treffen, es sagt uns indessen auch, dass es längst schon total überfordert ist. Und deshalb sehnen wir uns nach dem großen Alpha, der alles weiß und alles kann.

Unser Gehirn wurde von Mutter Natur programmiert, um Herden von Familien durch eine Wildnis zu führen, die weder Gutes noch Schlechtes im Sinn hat mit uns, die aber dennoch Gefahren und Vorteile für uns birgt. Wir wurden letztendlich programmiert aufgrund einer Realität, in der wir selbst noch gar nicht existiert haben können.

Physik der Information, ISBN 3-935031-03-3,
Die drei Stufen der Realität: der Vormarsch der Subjektivität und das Gesetz der Rückwirkung, S. 240

„Das Gesetz der Rückwirkung jeder Informationsverarbeitung lautet daher einfach: Jede Verarbeitung von Information reichert die Umgebung mit ihren eigenen Wirkungen an und erschwert die eigene Arbeit um die eigenen Rückwirkungen.“

Dieses Gesetz hat einige sehr unangenehme Eigenschaften, die die Zugewinnfunktion der Intelligenz von einem ewigen Höhenflug abhält – und die die Menschen vielleicht dazu verdammen, dies am eigenen Leib erkennen zu müssen.

„Je fähiger also eine Informationsverarbeitung wird, umso komplexer wird die eigene Rückwirkung auf die Umwelt, umso mehr Informationsverarbeitung muss getrieben werden, um wieder zu zuverlässigen Resultaten zu gelangen.

Oder anders gesagt: Intelligente Verarbeitung, die einerseits umfassend Informationen bewältigen kann, vernichtet andererseits Information genau durch die Werkzeuge, die sie so intelligent machte - durch das Verbergen von verwendeten Zuständen aus der eigenen Individuellen Erinnerung.

Vermieden werden kann dies teilweise dadurch, dass die Erinnerung geteilt wird: Lernen von anderen Artgenossen verhindert diesen Verlust von Information, indem die Zustände, die für die Informationsverarbeitung herangezogen wurden, aus der individuellen Erinnerung heraus wieder der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden. Die Entscheidungen werden damit „nachvollziehbar“.“

Mutter Natur hat den Schutz der Herde schon sehr früh ihren Organismus einprogrammiert, weil er sich schon auf Ebene der frühesten Zellkulturen als nützlich erwies. Menschen freilich, die als intelligentestes Leben auf dieser Erde die Zugewinnfunktion austesten, haben noch einen weiteren Vorteil in der Herde entdeckt.

Stichwort Anerkennung: Wenn mehrere unabhängige Einheiten dasselbe Modell der äußeren Realität entwickelt haben, spricht einiges dafür, dass dieses Modell „etwas taugt“, also tatsächlich die äußere Realität erfasst hat und nicht bloß irgendein Fantasiegebilde ist. Das heißt im Klartext: Wenn dir deine Freunde sagen, dass du etwas toll gemacht hast oder etwas ganz richtig verstanden hast, dann bestätigen sie dir die „Korrektheit des Modells“. Anerkennung taugt deshalb als „berührungsfreie Verifikation“, als schmerzfreie Ergänzung des Prinzips „Widerspruch“, das meist unangenehmer Art ist, und genau deshalb hat sie diese unendliche Macht über Menschen. Denn solche raffinierten, hoch entwickelten Modelle, wie sie ein Menschengehirn von der Umwelt machen kann, erfahren auch die Negativ-Seite der „Fliege“ am deutlichsten:

die „Informationsverschluckung“, die bei großen Systemen notwendig auftritt wegen der Aufbereitung der Massen von Information, die sie zu bearbeiten imstande sind.

Die Entscheidungsstelle kann nämlich unmöglich mit aller vorhandenen Information fertig werden, deshalb muss ja das System einspringen und so lange Arbeit investieren, bis die Information auf ein verträgliches Maß für die Entscheidungsstelle zurückgeschraubt wurde. Und das kann auf jeder Ebene der Verarbeitung eben auch Fehler einspeisen – also muss ständig, ständig verifiziert werden, ob das, was die Verarbeitung ermittelt hat, noch in Übereinstimmung mit der Realität steht.

Und hier schließt sich der Kreis.

Einerseits also die Faulheit, die uns davon abhält, kostbare Energie zu verschleudern, andererseits die „biologische Erfahrung“, dass starke Alpha-Männchen die Herde beschützen und dafür Unterwerfung kassieren dürfen und letztendlich die menschliche Einsicht, dass wir nichts weiter als Zauberlehrlinge sind, die sich ihre Welt verändern, ohne zu wissen, was vor sich geht, mit dem fast zwangsläufigen Hilfeschrei nach dem „weisen Zauberer“ (Bananenhaufen-Effekt)

+

die Informationsverschluckung in arbeitsteiligen Systemen, die mit der Größe des Systems anwächst

= Spiegelsaal.

Warum sich dann große Systeme überhaupt entwickeln? Warum sich Konzerne, Körper und menschliche Gehirne überhaupt entwickeln?

Bertrands Paradox: Je mehr Information du verarbeiten kannst, umso besser werden deine Entscheidungen, umso effektiver kannst du deine Interessen vertreten.

Größe hat nur immer einen Riesennachteil: Sie hat zwar auf den ersten Blick viele Vorzüge, doch eben nur auf den ersten Blick. Große Körper, wie Saurier und Konzerne, meißelten ihr Wissen in die Struktur ihres Körpers, ihr Körper passte sich an ihre Umwelt an, um besonders groß und mächtig die eigenen Interessen zu vertreten. Das ist aber nur passive Informationsverarbeitung und die kann nur über Änderung der Körperstruktur lernen. Das funktioniert richtig gut, solange die Umwelt stabil bleibt oder sich wenigstens nur langsam genug ändert, um die Körperstruktur anzugleichen: s. Konzerne und Mittelständler.

Größe hat aber auch bei aktiver Informationsverarbeitung ihre Grenzen – und zwar diejenigen, die die grundlegende Natur der Information ihnen setzt. Information ist zuallererst immer Veränderung. Dass wir sagen „gib mir bitte diese Information“ oder „ich habe die Information, dass“, heißt immer nur, dass irgendjemand, irgendetwas uns Klarheit verschafft hat über einen bestimmten Zustand.

Pars pro toto – weil Information abbildbar ist und weil wir nur über Abbildungen Information aufnehmen und verarbeiten können, ist für uns die Abbildung zum Synonym der Information geworden, der Zustand, das Datum selbst ist „Information“ in unserem Sprachgebrauch, doch letztendlich ist das nur die halbe Wahrheit: Die Information ist und bleibt der Vorgang, der uns dieses Datum verschafft hat, nicht das Datum selbst. Was wir am Ende von der Information zurückbehalten haben, ist dagegen nur dieses Datum, nur der Zustand, der sich abbilden, speichern, identifizieren, vergleichen, verarbeiten, kopieren lässt.

Deshalb arbeitet unser Gehirn dynamisch – um nicht nur die Zustände, die uns von unseren Sensoren übergeben werden, zu erfassen, sondern auch ihr Verhalten, zumindest als Abfolge dieser Zustände, die unsere Sensoren verkraften können. Und dennoch ist der Faden zur Realität sofort gekappt, wenn die Messwerte der Sensoren in unserem System angekommen sind – die Realität läuft weiter, die Abbildung in unserem Gehirn soll dagegen erhalten bleiben, um uns als Modell zu dienen für unsere Entscheidungen. Das Modell kann deshalb letztendlich nur noch mit den eigenen Erinnerungen verglichen werden, um es auf Tauglichkeit zu prüfen – und nur über Widersprüche zu neu eintreffenden Erfahrungen kann es überprüft werden.

Je mehr Information dabei verarbeitet werden kann, umso mehr Erinnerung, Vergleiche und Verarbeitung muss berücksichtigt werden – umso mehr „individuelles“ Wissen spielt jedoch mit, umso mehr werden die Zustände der Realität, die als Basis der Rekonstruktion von Information dienen, durch individuelle Erinnerung „aufgefüllt“, umso weniger werden diese Zustände von „außen“ nachvollziehbar: Es geht Information verloren.

Soll heißen: Hohe Intelligenz aktiver Informationsverarbeitung vernichtet Information und wirkt deshalb kontraproduktiv: Die Zugewinnfunktion der Information ist nicht linear.

Und weil wir das alles intuitiv wissen, glucken wir uns in Herden zusammen, die unserer Winzigkeit mehr Bedeutung geben kann, wir suchen uns „Mutterfiguren“ in den Alphas, die uns beschützen und vielleicht sogar nähren, wenn wir nur fein „brav“ sind, wir folgen ihren Befehlen, weil wir gläubig ihren Schutz auch in den geistigen Bereich extrapolieren und deshalb hoffen, dass ihre Stärke auch im Reich der geistigen Informationsverarbeitung existiert –

und wir bekämpfen alle „Bösen“, die unsere „weisen Zauberer“ in Frage stellen.

Wir halten alle Widrigkeiten von unseren Alpha-Männchen ab, wir unterwerfen uns und teilen alles mit ihnen in der Hoffnung auf Schutz und Belohnung – und wir verteidigen unsere „erworbenen Positionen“ in der Nähe des Alphas mit der Rücksichtslosigkeit biologischer Programmierung.

Aber wie sagte der Entthronte:

Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei – in einem solchen Spiegelsaal, in dem der Puffer der Unterwürfigkeit die Widrigkeiten ausschaltet, wird der Widerspruch ausgeschaltet.

Dieser Widerspruch, der das Einzige ist, was Informationsverarbeitungen Sicherheit schaffen kann – dem urtümlichsten aller Verifikationsinstrumente für die Modelle, die sich IVs so von der Welt machen.

Anerkennung, die bei Schimpansen vielleicht noch richtig gut funktionierte als „berührungsfreie Verifikation“, funktioniert bei Menschen mit der Sprache (Austausch von Erfahrung, sprich auch von „falscher Erfahrung“) einfach nicht mehr so gut: Wir Menschen müssen uns deshalb wieder mehr auf den Widerspruch zurückziehen, um unsere Modelle auf Tauglichkeit zu prüfen.

Das aber wird den Alpha-Männchen in großen Menschenherden verweigert – und deshalb „staut“ sich der Widerspruch auf: Denn natürlich findet jede „dumme“, sprich realitätsferne Entscheidung recht schnell ihren Widerspruch in der Realität, doch in großen Menschenherden müssen das immer die „Kleinen“, die Randgruppen der großen Menschenherden ausbaden. Und deren Schmerz führt leider nicht dazu, dass der Alpha lernen kann, denn deren Schmerz wird von dem Puffer der Unterwürfigkeit blockiert. Das wiederum führt zu einem Teufelskreis: Der Alpha lernt nicht, weil seine Entscheidungen zwar die Realität verändern, leider im Widerspruch zu seinen Entscheidungen, was er wiederum als Information aufnehmen müsste, um seine Entscheidungen zu korrigieren, was natürlich nicht geschieht wegen seines Puffers der Unterwürfigkeit, sodass seine neuerlichen Entscheidungen wiederum auf einer Basis getroffen werden, die einem „früheren“ Zustand der Realität entspricht, zu einer Zeit, als er noch kein Alpha war und noch selbst die „Welt begreifen“ konnte – er arbeitet also „gegen“ Bertrands Paradox, nimmt weniger und weniger Information auf und erzeugt deshalb schlechtere und schlechtere Entscheidungen.

Eine Zeitlang funktioniert dies immer, zumal der Alpha mit seiner Stärke und der Stärke der Unterwürfigen die Umwelt formen kann, „machen“ kann, weil er Macht hat. Irgendwann aber hat er sich so von der Realität entfremdet, dass seine Entscheidungen zu solchen Fehlern führen, dass die Schmerzen aus den sich ergebenden Widersprüchen zur Realität bis in die Kreise der Beta-Männchen vorstoßen. Und dann bröckelt deren Unterstützung und wenn der Alpha dann nicht merkt, was los ist...

kommt der nächste Alpha. Das ist biologisches Programm – Beta-Männchen sind treu und loyal, bis die Alpha-Schicht wegfällt, dann kämpfen sie selbst um die Vorherrschaft.

So lautete auch die Geschichte des Entthronten.

Und genau deshalb war seine Analogie mit dem „Spiegelsaal“ so perfekt – weil ein Spiegel keine Informationen erlaubt, die nicht schon längst vorhanden sind, weil er das Phänomen „Anerkennung“ so bildhaft beschreibt und weil er letztendlich auch die Isolation nahe bringt, die den Alpha zwar zum „Herrenmenschen“ macht, solange er Alpha ist, die ihm aber den Schutz der Herde verweigert, wenn er am Ende eben doch Hilfe braucht.

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...was Business Intelligence (BI) mit Bertrands Paradox zu tun hat?

oder: Jede noch so unwesentliche Information verbessert unsere Prognose - messbar.

Faust, Der Tragödie zweiter Teil:
Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken
Das nicht die Vorwelt schon gedacht?

BI als diverse Auswertungen vorhandener operativer Daten wird in den meisten Firmen inzwischen ganz selbstverständlich benutzt – denn das Problem unserer Tage lautet längst nicht mehr, Daten zu sammeln, sprich Zustände aufzunehmen und zu speichern, die die Information charakterisieren, sondern die Information auch wieder korrekt zurück zu gewinnen: Die Rekonstruierbarkeit der Information gehört schließlich zu dem, was wir „Wissen“ nennen und Information erhöht unsere „Intelligenz-Effektivität“ als die Genauigkeit unserer Vorhersagen.

BI als Auswertungen vorhandener Daten/Zustände hat deshalb exakt den richtigen Namen: Intelligence, weil diese Auswertungen nicht aus Jux und Dollerei durchgeführt werden, sondern schlicht und einfach aus dem Grund, die notwendigen Entscheidungen, die jede Informationsverarbeitung, also auch Firmen, jeden Augenblick ihrer Existenz zu treffen haben, so „angepasst und gut“ als möglich zu treffen. Angepasst heißt hier nichts weiter, als der Situation korrekt entsprechend, gut heißt, dass der Erfolg der Entscheidung tatsächlich das eigene Ziel so unterstützt, wie es geplant war. Und Planung heißt: Prognose.

BI als Intelligenz wertet Zustände aus, um Zusammenhänge zu rekonstruieren, um die „Information“ aus den Daten zu erzeugen – und weil jede noch so unwichtige Information die Prognose verbessert, verbessert BI immer auch die Entscheidungen und erhöht die „Intelligenz“ der Firma (solange die Informationen korrekt sind, selbstverständlich).

Bertrands Paradox sagt genau dies: Jede noch so unwesentliche Information über ein System verbessert messbar die Prognose und dafür gibt es neben dem mathematischen Beweis von Joseph Bertrand (1822-1900) soviel Nachweise, wie es Informationsverarbeitungen gibt. Das Beispiel des Hütchenspiels, das gerne zitiert wird, fand kürzlich in abgewandelter Form bei der Frage-Comedy „Genial daneben“ des SAT1-Senders statt: Hier wies der Moderator nur darauf hin, dass die Ratenden selbst drauf kommen müssten – und dieser Hinweis genügte als Information, dass die Frage „herleitbar“ war, um die Lösung dann auch tatsächlich herzuleiten. Ein anderes Beispiel ist das (menschliche) Gehirn: Würden Entscheidungen nicht überlebensfördernd verbessert durch die Steigerung der Intelligenz, wäre das Gehirn nicht in einem Maße gewachsen, bis es sogar zu signifikanten Sterblichkeitsraten bei Mutter und Säugling kam, sprich sogar überlebensgefährdend für eine so erhebliche Anzahl von Individuen wurde, dass die Evolution sich darauf einstellen musste – jedoch nicht durch Reduzierung des „gefährlich gewachsenen“ Gehirns.

Auch die Zahlen, die kürzlich in der Computerwoche (20/2004, S. 29) standen, beweisen Bertrands Pardox erneut:

Eine Steigerung korrekter Entscheidungen um ca. 10% sei mit umfangreichen und zuverlässigen-BI-Produkten zu erreichen (von ca. 60% auf 70%).

Und auch die Zugewinnfunktion der Intelligenz wurde angesprochen, denn natürlich wäre eine „höhere Entscheidungsqualität“ auch mit Kosten verbunden – und ob die Verbesserung der Entscheidung diese Kosten rechtfertige, ist eben in jedem Fall gesondert zu prüfen.

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Häuptling Däumling

oder: Es geht auch anders – ganz anders.

Bertrand Russell:
It has been said that man is a rational animal. All my life I have been searching for evidence which could support this.

Thema: Evidence for the „rational animal“ oder der Krieg ist keineswegs Vater, schon gar nicht aller Dinge, TV-Reportage „Häuptling Däumling - Galsan Tschinag - Poet und Weltenwanderer“ von Klaus Balzer, 04.09.2004, ZDFdokukanal, 22.30h-23.15h (Handschriftliche Mitschrift):

„1) Die Tuwa, ein früher großer mongolischer Stamm im Hochgebirge des Altai, der heute nur noch aus ca. 4000 Menschen besteht, glauben an Geister und haben Schamaninnen

2) Pferde werden mit Futter „gezähmt“ (aus einem Gedicht oder einer Erzählung eines Jungen)

3) Häuptling ist „Kind“ des Stammes, das – als Erwachsener – sich um diejenigen kümmern muss, die ihn aufgezogen haben

4) solange alte Leute arbeiten, muss man sich keine Sorgen machen – erst wenn sie damit aufhören, fragt man sie, ob sie „alt“ werden

5) Kasachen, der weitaus größere und einflussreichere Stamm der Mongolei, gehören dem islamischen Glauben an. Nach Galsan Tschinag sind sie sehr irdische, materialistische Menschen, die „nur ein einziges Leben haben, das man so gut als möglich genießen/ausschöpfen muss“. Der Gegensatz zu den naturverbundenen Tuwa führte ihn jedoch keinesfalls dazu, diese andere Mentalität zu verdammen – großzügig und tolerant akzeptierte der Häuptling der Tuwa diese andersartige Geisteshaltung und kam nach seinen Worten sehr gut mit diesen Leuten aus. Genauso gut, wie er mit der deutschen Art in Leipzig auskam.

Seine Beurteilung dieser „drei Welten“:

- in der ersten Welt, die der Tuwa im Altai, wird gelebt

- in der zweite Welt, die der Kasachen in Ulan Bator, wird gearbeitet

- in der dritten Welt, die der Europäer in Deutschland, wird Geld verdient.

6) der Tod ist kein Unglück, sondern eine eigene Entscheidung. Galsan Tschinag erzählt, sein Vater habe eines Morgens verkündet: „Ich habe beschlossen, heute aus dem Leben zu gehen“ und er hätte es getan. Dabei sei Selbstmord nicht nötig gewesen, die Entscheidung zu gehen und die Durchsetzung dieser Entscheidung seien „von innen heraus“ geschehen. Auch von den letzten Jahren seiner Mutter berichtete er: Noch unter den Zeiten des Sowjet-Regimes hätte sie sich eine Tuwa-Tracht genäht, was damals noch verboten war, hätte aber noch erleben dürfen, wie Regime und Verbot untergingen und die alten Traditionen wieder gepflegt wurden. „Jetzt könne sie gehen“, habe sie gemeint.

7) Galsan Tschinag beschreibt sein Ziel im Leben, ein „menschlicher Berg“ zu sein wie der runde, leuchtend weiße Gletscherberg seiner Heimat, der als „Vater“ Schutz und Licht bot – genauso wollte Galsan Tschinag werden: Schutz und Licht bieten.“

Ich habe mich oft gefragt, wie die hoch entwickelte Ingenieurskultur von Harappa und Mohendjo Daro es geschafft hat, um das Giermonopol des Adels und des Klerus herumzukommen. Denn das Versagen der Menschheit, ihr Rückfall ins Affentum, ist unter dem Aspekt der Informationsverarbeitung fast unausweichlich – um ihm zu entgehen, müssen wir (wieder einmal, wie weiland bei der Erfindung der Sprache) die zwischenmenschliche Kommunikation um Klassen verbessern. Nur so werden wir die unausweichliche „Individualisierung“ des Wissens mit der genauso unausweichlichen Konsequenz der Vernichtung von Information entgehen können.

Genau deshalb faszinierte mich diese Reportage. Denn in den modernen Kulturen ist nichts mehr von der früher existentiellen Naturverbundenheit zu finden – die die Menschen so augenscheinlich friedlich und zufrieden machte und nicht ängstlich/aggressiv und gierig, wie wir es heute sind. Dass dieser Stamm der Tuwa eine sehr alte Kultur haben müsste und deshalb Hinweise auf frühere menschliche Verhaltensweisen geben konnte, legte mir die Tatsache nah, dass sie noch Priesterinnen hatten – ein in modernen Religionen nicht mehr (oder nur „nachträglich“) geduldeter Stand, während in den Frühzeiten menschlicher Schriftbildung, in den Höhlenmalereien und Statuen der Steinzeit das Verhältnis der Geschlechter gegensätzlich war. Am Grad des weiblichen sozialen Einflusses und Götterhimmels lässt sich deshalb fast bestimmen, wie „weit“ die Kultur in die Vergangenheit zurückreicht.

Dies ist besonders deshalb interessant, weil mit diesem „Zurückreichen“ auch der Grad an Toleranz und Friedfertigkeit zu steigen scheint. Die frühen Kulturen der Menschheit erfanden Sprache und Schrift, Mathematik und Musik – hatten dafür keine (steinernen) Mauern um ihre (steinernen) Städte nötig, das musste erst in jüngerer Zeit erfunden werden, nachdem Jericho schon lange stand und schon lange reich war und schon lange ein Anziehungspunkt für die wachsende Zahl von Räuberhorden darstellte. Gewalt war wohl verpönt zu Zeiten der Höhlenmalereien – dies ist eine höchst interessante Lektion, die sich aus der Anordnung der Pferde (Symbole der Seelen) und Löwinnen (Symbole für Medizin?) weit über den tobenden Rhinozerossen (Symbole für blinde Gewalt?) herauslesen lässt. (Quelle 08.09.2004: Höhle von Chauvet, Panel of the Horses, 2 Bilder)

Die Kasachen scheinen denn auch viel eher „unserer“ Zeit anzugehören als die Tuwa: materialistisch, auf den eigenen Vorteil bedacht, einer modernen Abrahamschen Religion angehörig, mit den uns bekannten Alphastrukturen und den uns bekannten Lebensweisheiten vom Recht und Gesetz des Stärkeren, der je nach Bildungsgrad Gott oder die Naturgesetze auf seiner Seite habe. Wie anders da die Tuwa! Sie „zähmen“ ihre Pferde mit Futter und sehen alte Leute nicht als Ballast an, der nur krank und lästig wird. Und ganz besonders aussagekräftig ist ihr Verhältnis zum Tod – wieder ungewöhnlich: geradezu „emanzipiert“.

Bei den Tuwa gibt es ebenfalls soziale Strukturen, wie es die ML-Methode schließlich für jede Informationsverarbeitung nahe legt – dennoch sieht die Sache auch hier sehr anders aus, als wir sie kennen. Der Häuptling betrachtet sich nicht als den „Besitzer“ des Stammes mit dem Recht zum Befehl und elitären Privilegien, er wird stattdessen als „Kind“ gesehen (und sieht sich selbst so), das für die „alten Eltern“ sorgen soll, sich aufmerksam um ihre Bedürfnisse zu kümmern hat und mit seiner Stärke und seiner Weisheit ihre Probleme lösen muss.

Wer diese Reportage und diese schlichten, gelassenen und klugen Menschen gesehen hat, mag trotz allen Zynismus’ eines Bertrand Russell, erlernt aus dem täglichen Versagen der Mächtigen und weniger Mächtigen, ein wenig ahnen, wie die Harappa-Kultur früher existieren konnte. Wie es Hunderte von Jahren eine Hochtechnologie erschaffen konnte und dennoch – oder gerade deshalb – weder Könige noch Priester kannte, zumindest nicht in diesem raffgierigen Maße, das sich Bananenhaufen in Form von luxuriösen Palästen und Tempeln (mit den allgegenwärtigen Namensstempeln des Besitzers) schafft, während die Untertanen immer tiefer in die Armut abrutschen. In Harappa war der Reichtum gleichmäßiger verteilt, Komfort wurde für alle geplant, Hygiene war in jedem Haus selbstverständlich, Frischwasserversorgung und Kanalisation wurde für das ganze Stadtgebiet angeboten – ganz wie heutzutage in einer funktionierenden Demokratie. (Gibt es die noch lange, Mr. Bush, der du uns demonstrierst, wie aus Demokratien Aristokratien werden?)

Von Bädern wurde in Harappa berichtet und von Wachstuben, von starken Mauern jedoch nur im Zusammenhang mit Kai-Anlagen oder als Verteidigungsschild gegen Piraten. Vielfältiges, zahlreiches Keramikspielzeug wurde beschrieben, Tiere mit beweglichem Nacken, Ochsenkarren und Schiffe, definitiv auch Erwachsenenspiele, viel kostbare Goldschmiedekunst, Schmuck und Küchengerät - die Erwähnung von Waffen freilich fand ich nur sehr „untergeordnet“: An einer Stelle wurden Inschriften auf Speerspitzen erwähnt, im anderen Fall die Handwerkskunst gelobt und als deren Beispiel Klingen und Haken gezeigt, von der Rasierklinge bis zur Lanzenspitze, vom Hakenstock bis zum Angelhaken.

Und ich suchte in den Texten ganz gezielt danach, weil in den meisten Kulturen Waffen Herrschaftssymbole sind und den Status des Königs als oberstem Militärführer untermauern. Oft sind deshalb die besten Handwerker die Waffenschmiede gewesen.

Gerade weil die Spielzeuge von Harappa so vielfältig und kunstfertig das gesamte Alltagsleben demonstrierten, suchte ich also auch nach Kriegsspielzeug. Denn das ist keine Erfindung der Neuzeit, Spielzeug bildet immer die Lebenswelt der Kinder ab. Sogar von Goethe wird überliefert, dass er seine Mutter bat, eine Miniatur-Guillotine für seinen Sohn August zu kaufen (worauf sie sehr ungehalten reagierte) und sicher haben die Soldaten des Hammurabi ihren Kindern ebenso kleine Schwerter und Speere mit nach Hause gebracht.

Aber es wird kein Kriegspielzeug in Harappa erwähnt, obwohl gelegentlich „königliche Tugenden“ an einer männlichen Statue sehr bewundert werden, dem „Priesterkönig“. (Zwar sind die meisten Archäologen heute der Meinung, dass diese Städtegemeinschaft im Indus, die größere Metropolen als Sumer und weitere Gebiete als Ägypten besiedelte, eine tatsächlich geradezu moderne, technisch orientierte Wirtschaftsnation ohne herausragende Königs- und Papstfiguren gewesen sein muss, doch der Name für die Statue ist geblieben.)

Auch scheint mir der Bezug zu Tieren sehr dem der Tuwa zu ähneln und weniger unserer üblichen „ökonomischen“ Sicht als Gebrauchsmaterial, das völlig dem „verwendenden“ Menschen unterworfen ist. Tiere wurden zwar auch in Harappa „genutzt“, ihre Repräsentation als liebevoll gestaltetes Spielzeug erinnert mich jedoch weitaus mehr an „das Zähmen des Pferdes“ mit Futter als an das „Brechen des Willens“ durch Zureiten, das bei den Rodeos der Wildwest-Shows so temperamentvoll vorgeführt wird. Wir haben sicher fast alle den gesehen, der mit dem Wolf tanzte und wissen, dass die Indianer (teilweise) ähnlich human gegenüber Tieren dachten wie die Tuwa…

und vielleicht wie die Menschen von Harappa.

Jedenfalls kann ich mir eine Führungsstruktur in der Form eines Häuptlings wie Galsan Tschinag sehr gut als Leitung einer Wirtschaftskultur mit hohem technischem Know How und Wohlstand für alle vorstellen, denn er sieht die Führung als Pflicht an, nicht als Recht, sich bevorzugt zu bedienen.

Eigentlich genau das, was „moderne Führungskräfte“ nach den gar nicht mehr so modernen Universitätsweisheiten vom partnerschaftlichen und respektvollen Leittier demonstrieren sollten, nicht wahr? Und wie oft finden sich solche Manager trotz dieser Lehren? Das meiste sind doch nur Bosse – und nicht mal besonders effiziente.

Das Problem dabei, Harappa mit der Tuwa-Denkweise zu verknüpfen?

Die Tuwa und andere, ähnlich human denkende Kulturen sind dörflicher Art – die Städte des Industal beherbergten jedoch bis zu 40.000 Menschen und sie waren nur „die Spitze des Eisberges“, der sich über eine Million Quadratkilometer erstreckte: vom Arabischen Meer bis zu den Vorbergen des Himalaya, von der Ostgrenze Persiens bis zum Gangestal.

Wie brachten die Menschen es fertig, ihre Menschlichkeit über ein solches Gebiet mit so vielen Personen (und soviel Reichtum) zu retten?

Sie hatten doch dieselben Probleme wie alle Informationsverarbeitungen – und sie mussten mit Arbeitsteilung reagieren, sie mussten Hierarchien bilden und Leute auf bestimmte Arbeiten spezialisieren. Das machten sie auch definitiv. Um die als Verwaltungseinheiten eingestuften Städte waren andere Ortschaften gruppiert, die die tatsächliche Produktionsarbeit leisteten: Eine Siedlung bearbeitete Baumwolle, die nächste Metalle, die dritte Muscheln. Dass sie eine kontrollierte, personenungebundene Kommunikation benutzt haben mussten, ist unbezweifelt, auch wenn ihre Schrift noch nicht entziffert werden konnte.

Also wie?

Wie schafften sie es dann, die notwendigen hierarchischen Strukturen zu bilden, ohne den Weg aller übrigen Kulturen gegangen zu sein?

Ein Teil ihres Erfolges scheint zu sein, dass sie wohl nur einer „diffusen“ Art von Religion folgten und nicht „herrschaftlichen“ Göttern - wie die Tuwa, die an eine beseelte Natur glauben, an Geister in allem, was existiert, nicht aber an Könige im Himmel.

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Selbstverständlichkeiten

oder: „Wir dachten eben, es müssten Engländer sein“

George Orwell:
Circus dogs jump when the trainer cracks the whip. But the really well-trained dog is the one that turns somersaults when there is no whip

Harappa und Mohendjo-Daro, die ganz andere Kultur, die keine Könige und keine Päpste kannte, die Reichtum nicht für Einzelne hortete, dafür aber Spielzeug und Industrie perfektionierte.

Wie konnte das sein?

Herrschertum und Religion, besonders der Glaube an einen oder mehrere Götter, prägt unsere Welt in einem Maße, die uns ihren Einfluss zur Selbstverständlichkeit werden lässt…

aber Selbstverständlichkeiten gibt es nicht.

Selbst die Naturgesetze, die einzig wirklich „wahren“ Informationen in unserem Universum, sind irgendwann einmal „entstanden“, sogar der Mond entfernt sich von der Erde und lässt die Tage keine 24 Stunden mehr dauern. Nichts bleibt, wie es ist.

Genau das macht Information so kostbar, denn Information ist das, was im Moment zuverlässig ist – mit der Betonung auf „im Moment“.

Unser Gehirn weiß das sehr wohl: Bei all seiner Fähigkeit, Information aus der chaotischen Umwelt zu extrahieren, ist es sich doch der „statistischen Natur“ seines Wissens sehr deutlich bewusst. Deshalb ist unsere Erinnerung nicht in Stein gemeißelt, deshalb kann man uns im Extremfall eine völlig andere Vergangenheit einpflanzen – weil das Gehirn kein einfacher Datenspeicher ist, der Zustände detailgetreu abbildet wie eine CD, ein Buch oder auch ein Genom, sondern eine aktive Informationsverarbeitung, die die Zustände in ihren Reihenfolgen kennen muss, um die dahinter steckende Information abzubilden. Und weil die Zustände unserer Realität selbst für unser Gehirn zu mächtig sind, arbeitet es eben mit vereinfachenden Tricks – genau wie unsere Rechner, die in der Bildverarbeitung schon lange nicht mehr Punkt für Punkt berücksichtigen, sondern sich anhand von Regeln aus einem „ausgewählten“ Satz von Zuständen sich die endgültigen Bilder bei Bedarf „zusammenbauen“. Dieses Verfahren hat nicht nur Vorteile beim Speichern, sondern klar auch bei der Verarbeitungsgeschwindigkeit. Und es ist absolut exakt. Solange…

solange die Bedingungen erfüllt sind, dass Mengen und Funktionen als Abbildungsstrategie funktionieren, dass die Konfigurationsmethode praktikabel ist: Das Problem muss in all seinen Facetten gut bekannt sein und es darf sich möglichst nicht ändern.

Das Gehirn hat jedoch weitaus komplexere Probleme als hübsch beschränkte wie Bildbearbeitung zu lösen und es steht zudem unter ständigem Zeitdruck, denn es muss die Zukunft für die nächste Sekunde vorhersehen können, es muss feststellen können, ob eine Gefahr im Anzug ist, die sofortiges Handeln verlangt. Sonst lebt es nicht lange.

Und weil es beim Gehirn ums Überleben geht und zwar im wahrsten Sinn des Wortes, ist es uneingeschränkt bereit, neu eingegangene Daten, die im Widerspruch zu seinem bisherigen Wissen stehen, bevorzugt zu behandeln und es ist genauso uneingeschränkt bereit, sein Wissen zu korrigieren, falls es einen Widerspruch zur Realität feststellte. Denn dieser Widerspruch könnte der letzte Fehler gewesen sein, den dieses Gehirn sich erlaubte.

Deshalb hat sich dieses mächtige Werkzeug eine noch mächtigere Selbstkontrolle erschaffen: unser Ego. Unser Bewusstsein bildet sich nicht nur ein, dass es die Herrschaft über unseren Körper hat, es hat sie tatsächlich, denn es wurde dazu konstruiert, unser Wissen zu perfektionieren.

Natürlich kann es nicht alles Wissen unseres Gehirns „begreifen“ – das wäre nicht nur viel zu viel, es wäre schlicht auch „doppelter Aufwand“, damit Energieverschwendung und als solches gefährlich, denn Energie ist für einen Körper genauso lebensnotwendig wie für eine moderne Wirtschaft. Die gesamten Informationen unserer biologischen Steuerung sind ausgewogen und seit Jahrmillionen optimiert, da greift ein Disziplinarinstrument besser nur dann ein, wenn sich größere Probleme abzeichnen.

Oder wenn es um wichtige Entscheidungen geht.

Briten haben kürzlich herausgefunden (Quelle 05.08.2004), dass die Überzeugung der Mutter das Geschlecht des Kindes in signifikantem Maße beeinflusst, ganz im Gegensatz zu unserem Sexualkunde-Unterricht, der uns mitteilte, dass der Vater über das Geschlecht entscheide, weil nur die Spermien sich in der Geschlechtsvorgabe unterscheiden. Alles hübsch biochemisch erklärbar, hübsch verständlich und sicher, völlig ohne Einmischung eines unberechenbaren Disziplinarorgans „Bewusstsein“ – diese Hypothese der „vollbiologischen“ Fortpflanzung wird sicher nicht zuletzt dadurch unterstützt, dass die Hormone, die zur Vorbereitung des Sexualaktes ausgeschüttet werden, nicht gerade die analytischen Fähigkeiten unseres Gehirns fördern.

Aber das heißt noch lange nicht, dass dieses Gehirn sich ausschalten lässt - es heißt nur, dass wieder einmal eine „Selbstverständlichkeit“ baden ging.

Die hormonelle Steuerung heißt letztendlich nur, dass die Fortpflanzungsmethodik sehr viel älter als das jüngste aller Entwicklungswerkzeuge, das „Ego“ ist, und dass diese Methodik nicht einfach wegen einer neuen Erfindung geändert wird, wenn sie so lange gut funktionierte.

Never change a running system. Informationsverarbeitung ist nicht ganz so simpel, wie viele glauben. Ein paar Daten zu sammeln und hübsch in Reihe zu bringen, genügt längst nicht. Das liegt schlicht und einfach daran, dass die physikalische Natur der Information als Wirkung ihre Verarbeitung zu einem Wirkungsgeflecht werden lässt – und das muss dem Prinzip der geringsten Wirkung folgen, um effektiv zu sein. Bis auf die Physik und die ML-Methode berechnet aber kaum jemand minimale Wirkungen, das wiederum heißt, dass die optimale Lösung, ganz wie in der Biologie, durch Versuch und Irrtum, durch Mutation und Selektion „entdeckt“ werden muss – und das macht sie reichlich selten und somit reichlich kostbar.

Auch die Gefühle wurden schließlich nicht abgeschafft, dafür sind sie viel zu wertvoll als schnelle, erprobte „Vorab-Entscheider“. Viel zuviel Wissen, in langen Jahrmillionen erworben, steckt in diesen Gefühlen, in der Bestimmung signifikanter Signalreize und Musterverhalten, als dass ein gutes Gehirn ihre 80%-Lösungen verwerfen würde: Sie sind auf Geschwindigkeit optimierte Massenverwerter, die ein Pensum an Information bewältigen können, unter denen das exquisiteste menschliche Bewusstsein völlig zusammenbrechen würde.

Doch das ist auch nicht seine Aufgabe, denn das Ego wurde als Selbstkontroll-Instrument entwickelt, nicht als Ersatz längst funktionierender Systeme.

Und hier kommen wir zu der Entdeckung der Briten zurück: Denn „im Normalfall“ ist die menschliche Fortpflanzung „unentschieden“ zwischen den Geschlechtern, es werden so viele Jungen wie Mädchen geboren. Wenn die Mütter aber glaubten, nicht sehr alt zu werden (nicht mehr lange „produktiv“ zu sein?), veränderte sich das Verhältnis ziemlich radikal: Auf 100 Töchter kamen nur noch 78 Söhne. Der umgekehrte Fall, dass die Mutter hoffte, über 60 Jahre alt zu werden, zeigte nicht ganz denselben Effekt: 108 Söhne standen hier 100 Töchtern gegenüber.

Eine ähnliche Beeinflussung kannten die Wissenschaftler bisher nur aus Entwicklungsländern, wenn Hungersnöte drohen – in Krisensituationen werden mehr Mädchen geboren. Evolutionsbiologien erklären dies damit, dass die Frauen die „knappe Ressource“ bei der Fortpflanzung sind, sodass bei (äußeren) knappen Ressourcen ihnen von der Natur der Vorzug gegeben wird. In guten Zeiten dagegen kann die Biologie sich den „Luxus“ der Männer erlauben. (Um durch Konkurrenzkämpfe als Zuchtauswahl die genetische Konstitution der Rasse zu verbessern?)

Auch das haben wir uns ein wenig anders vorgestellt – wieder eine Selbstverständlichkeit, die den „neuen Tatsachen“ nicht standhielt.

Doch genau dafür haben wir unser Gehirn – wir haben unser Ego, um unser eigenes Wissen ständig zu kontrollieren, zu verbessern und bei Bedarf auch zu korrigieren, um unsere Entscheidungen zukunftstauglich zu machen.

Wie die Mutter, die bei einer Hungerkatastrophe durch ihre bewusste Erkenntnis des drohenden Unheils ihren Körper so steuert, dass er weibliche Spermien bevorzugt, während im „Normalfall“ es wohl eher umgekehrt ist: Der Körper steuert die Menschen.

Doch eigentlich braucht es gar nicht ein so verblüffendes neues Forschungsergebnis. Die einfache Tatsache, dass wir die intelligenteste Rasse dieser schönen blauen Erde sind, sollte uns unwiderlegbar beweisen, dass für uns Informationsbeherrschung und Überleben direkt zusammenhängen. Wir, die wir genetisch fast identisch mit den Menschenaffen sind, unterscheiden uns dennoch recht erheblich von ihnen: durch die Sprache. Sie war die evolutionäre Erfindung, die uns zu dem machte, was wir sind, die unser Ego so gewaltig förderte, dass es das gesamte, von Körper, Instinkten und Gefühlen aufgearbeitete Abbild unserer Welt erfassen kann, um es auf Widersprüche zu untersuchen.

Denn das ist die Aufgabe unseres Egos, des Bewusstseins: die Kontrolle der bereits erledigten Vorarbeiten, die Kontrolle der bisherigen Ergebnisse aus dem Dauerfeuer von Signalen, das ständig auf unseren Körper einstürzt, dieses massive, endlose Dauerfeuer aus Chaos, das geordnet und in Beziehung zueinander gesetzt werden muss, das auf Muster und Ähnlichkeiten überprüft wird…

für nichts anderes als für die möglichst objektive, ungefärbte Gewinnung von Information.

Ab einer gewissen Intelligenz mit ihrer Fähigkeit, massiv Information durch eine sehr differenzierte Hierarchie der Arbeitsteilung zu meistern, schaukeln sich freilich diverse kleine Fehler in den vielen Ebenen der Verarbeitung gewaltig auf, sodass es einer Art von „Normierungs“-Instrument bedarf, mit der die Ergebnisse auf solche internen Fehlprozesse hin untersucht werden können: das Ego.

Denn weil die vielfältigen „alten Systeme“ von Rauschunterdrückungen (Sinneseindrücke) und Musterlösungen (Gefühlen) wegen ihres Durchschnittscharakters im Einzelfall schon mal falsch liegen und weil sich das in der Summe verheerend auszuwirken vermag, braucht es das Ego als Kontrollinstrument: Das Ego, das sich selbst als „Information“ enthält, um die eigenen Wünsche, die eigenen bisherigen Speicherwerte (Erfahrungen), die eigenen angewandten Durchschnitte bei Bedarf aus den Ergebnissen wieder „herausrechnen“ zu können, um die bereinigten Resultate dann erneut in Beziehung zueinander zu setzen – sodass wir unsere Welt genau kennen in all ihren Farben und Formen und Details, um sie zu vergleichen – sodass wir sie „bewusst“ erfahren.

Der auslösende Moment für das Eingreifen des Egos?

Ein Widerspruch.

Irgendein Ergebnis aus all den Vorarbeiten, das mit den anderen nicht recht zusammenpassen will – wir haben Hunger, unser Körper konzentriert sich auf den Nahrungserwerb, um Essen zu entdecken, doch anstatt so nebenbei an den Kühlschrank gehen zu können, während wir die Tageszeitung lesen, ist der lebenswichtige Stoff unserem Zugriff entzogen: Die Alarmglocken schrillen. Einerseits der Bedarf, andererseits die Gefahr – unser Ego ist gefragt. Es muss nun einen Weg finden, beides unter einen Hut zu bringen, sonst überleben wir nicht. Sicher, weniger intelligente Rassen lösen dies durch „Prioritäten“: Das stärkere Gefühl setzt sich durch, bis zuletzt der Hunger so übermächtig wird, dass er jede Angst vertreibt. Aber eine intelligente Steuerung ist in solchen lebensbedrohenden Situationen unzweifelhaft einer unflexiblen vorzuziehen.

Ein weiteres wunderschönes Beispiel ist ein Mensch mit ambivalenten Signalen: Seine Körpersprache zeigt Verachtung für uns, sein lächelndes Gesicht und seine netten Worte schmeicheln uns dagegen. Resultat unseres Egos? Unser Gefühl, das auf die vielfältigen Eindrücke der Körpersprache reagiert, wird uns Ablehnung und Widerwille für diese Person empfehlen, während uns seine Komplimente in Hochstimmung versetzen, die eigentlich alle Schranken abreißen möchte, um weiter gelobt zu werden – Anerkennung ist ein mächtiger Trieb bei intelligenten Herdenwesen.

Ablehnung und Entgegenkommen - beides zusammen geht aber nicht, also wird das Ego diese beiden „Vorergebnisse“ überprüfen. Das heißt, dass dieses diffuse, unangenehme Gefühl, das uns aufgrund des Widerspruchs beschleicht, die Ahnung, dass etwas „nicht richtig ist“, uns dazu verleitet, auf die Elemente zu fokussieren, die diese beiden Vorergebnisse hervorgerufen haben: Wir sehen uns diesen Menschen sehr genau an, seine Körperhaltung, die uns definitiv beweist, dass er uns für minderwertig hält, hören genau auf die Formulierung seiner Lobhudeleien, um „zwischen den Zeilen“ zu lesen – und aufgrund unserer Erfahrung erkennen wir das Verhaltensmuster sehr rasch: Dieser Mensch will etwas von uns und es ist ihm völlig gleichgültig, ob es uns Schaden zufügt.

Was also geschieht?

Unser Ego versetzt uns wieder in Alarmstufe Rot, denn wenn es jenem auch gleichgültig ist, ob es uns Schaden zufügt – uns ist es das nicht, also suchen wir nun mit voller Kraft nach dem möglichen Schaden, der mit dem Ansinnen dieses Menschen auf uns zukommen könnte. Und wir denken weiter. Denn wenn seine Wünsche uns schaden können, wäre es gut möglich, dass dieser Mensch vielleicht schon etwas in die Wege geleitet hat, das seine Wünsche – und unseren Schaden – schon ins Rollen gebracht hat.

Unser Ego ist also vielleicht nicht fähig, die Massen von Informationen aufzuarbeiten, die unser Gehirn insgesamt bewältigen kann mit all seinen diversen Subsystemen – aber es ist sehr wohl imstande, mit den von den Subsystemen zur Verfügung gestellten Ergebnissen zu spielen, bis sich ein konsistentes Bild ergibt.

Und dafür muss es „die Subsysteme“ einschätzen können, wo ihre Fehler liegen, wo ihre Schwächen verborgen sind, was sie als Musterlösungen für ihre Berechnungen verwenden und wie dies ihre Verarbeitung beeinflusst: Es muss sich selbst kennen.

Das Ego ist damit die DNA des Gehirns.

Denn die DNA ist auch nur „ein Abbild“ des Körpers in all seinen diversen Zuständen und ermöglicht genau dadurch effiziente Reparaturen (Heilungen) und Schadensabwehr (Immunsystem), weil ein klar definierter Sollzustand sowohl der Kontrolle als auch der Wiederherstellung des Ist-Zustandes dient.

Das Ego kann als Element einer aktiven Informationsverarbeitung zwar nicht das fertige Ergebnis (den voll bestimmten Endzustand) beschreiben, wie es die DNA letztendlich tut -

es beschreibt lediglich die Ausgangsbedingungen, das bisherige Wissen, die bisherigen Folgerungen, das verwendete Regelsystem und – vor allem (Cui bono) – die eigenen Ziele: den „letzten voll bestimmten“ Ausgangszustand, der zusammen mit den neu eingetroffenen Daten den gewünschten Endzustand (die korrekte Abbildung der aktuellen Situation), ergeben soll. Dennoch ist es eine verselbständigte Abbildung des eigenen Selbst, genau wie die DNA.

Deshalb erfahren wir die Welt so anders als alle Tiere. Gefühle kennen sie auch, Angst kann sogar schon bei Kaninchen eine Art von Neurose auslösen, die sie vor vollen Futternäpfen verhungern lässt und Lügen und Schuldgefühle werden auch von Schimpansen berichtet.

Aber wir erfahren dies weitaus bewusster, deutlicher, in allen Einzelheiten, auf die wir uns konzentrieren können, weil wir sie gezielt vergleichen müssen.

Wir bewundern nicht nur unser Spiegelbild, das tun auch Primaten schon (außer den Alphas), wir können auch „saudumme Fehler“ von uns erkennen – und uns dafür verabscheuen.

Selbstkritik.

Sie hat ihren Sinn, denn sie verobjektiviert unser Wissen – und das verbessert unsere Entscheidungen und verbessert damit unsere Chancen zu überleben.

Sie ist uns sicher manchmal lästig, wir brauchen sie freilich dringend – um unser Wissen auf „Färbungen“ durch unsere eigenen Wunschvorstellungen hin zu untersuchen. „Der Wunsch ist Vater des Gedankens“, heißt es, wir jedoch müssen die Umgebung, wie sie ist, abbilden, nicht, wie wir sie gerne hätten. Vogel-Strauß-Politik funktioniert nun mal nur im Spiegelsaal, und selbst dort nur eine Weile.

Unser Problem ist, dass Wissen prinzipiell individualisiert ist bei einer aktiven Informationsverarbeitung – und je „intelligenter“ sie ist, je allgemeiner ihr Regelwerk ist, mit dem sie Informationen aufzunehmen imstande ist, umso mehr wird ihr Wissen von ihrer eigenen Erfahrung geprägt, von den Raumzeit-Punkten, die sie durchlaufen hat. Das wiederum heißt klipp und klar, dass es schwieriger wird, Wissen auszutauschen zwischen den einzelnen Individuen, die diese Form der Informationsverarbeitung praktizieren. Lernen aus anderen Abbildungen, ein wichtiges, weil „kostengünstiges Erweiterungsmittel“ von Wissen, ist als Prinzip deshalb gefährdet.

Darum wurde Kultur und Sprache für uns Menschen so wichtig: Denn die Kultur ist „gemeinsames Wissen“ und Sprache das Werkzeug zur Kommunikation. Nur was wir sprechen können, können wir austauschen – und das heißt letztendlich sogar, dass wir nur „wissen“ können, was wir sprechen.

Tatsache.

Völker, in deren Sprache bestimmte Ausdrücke nicht vorkommen, können die dahinter stehenden Ideen auch nicht begreifen. So gibt es einen Stamm im Amazonas-Gebiet, der nicht zählen kann: Erwachsene Personen sind nicht imstande, „eins und eins“ zusammenzuzählen. Zeigte man ihnen verschiedene Fotos, auf denen zwei oder drei Fische zu sehen waren, so konnten sie die passenden Fotos problemlos zuordnen: zwei Fische zu zwei Fischen, drei zu drei.

Eine Selbstverständlichkeit?

Bei acht bis zehn Fischen kamen sie durcheinander, bei mehr als zehn klappte nichts mehr – sie waren nicht imstande, „bis zehn zu zählen“. (Quelle 20.08.2004,nicht mehr vollständig, in Englisch: 19.07.2005). Bis vier aber können bereits Tiere zählen, das scheint also eher „genetisches“ Wissen zu sein als intellektuelle Leistung.

Eine ähnliche Geschichte kannte ich schon, wenn ich auch die Quellen nicht mehr angeben kann. Ein anderer Stamm irgendwo am Rande der Welt hatte wohl kein Wort für rechts oder links – die Leute konnten den Unterschied zwischen einem Bild und seiner gespiegelten Variante nicht erkennen. Soweit ich mich erinnere, brauchten sie diese Worte nicht, weil sie ihre Ortsbeschreibungen absolut durchführten – sie hatten also einen definierten Bezugspunkt, vielleicht ihren größten Berg, auf den sie jede andere Lokalität bezogen. Sie brauchten deshalb kein „rechts“ oder „links“, kein „oben“ oder „unten“, um zu erklären, wo sich etwas befand. Es muss ein sehr bodenständiger Stamm gewesen sein…

Sprache ist also wirklich weitaus mehr als einfach nur ein Kommunikationselement, sie ist Teil unserer Intelligenz. Unsere Sprache zimmert uns unsere Welt im wahrsten Sinne des Wortes zusammen und das ist nicht einmal sehr verwunderlich, denn wir sind wirklich sehr intelligent.

Unsere Intelligenz ist nun einmal sehr „grundlegend“ und deshalb sehr allgemein gegenüber der Aufgabe, Information aus den chaotischen Ereignissen der Umwelt herauszufiltern, enthält damit selbst wenig Wissen, vielleicht gar nur das, wie Information aussieht.

Wiederholbar und definierbar.

Sicher steckt auch noch Wissen in den Genen unseres Körpers, wie sein ganzer Aufbau und seine ganze Funktionsweise, auch werden ein paar grundlegende Instinkte und wesentliche Signalreize für die Gefühle irgendwo im Genpool untergebracht sein. Dadurch ist auch die Voraussetzung für unser „aktives“ Wissen schon gegeben, denn wie das Gehirn genau erbaut wird, weiß die Eizelle seit dem Moment, an dem sie die Initialisierungsroutine auf den neuen Zellkern erfolgreich abgeschlossen hat.

Oder etwa nicht?

Nein, schon auf dieser Ebene zeigt sich die hohe Bedeutung der Intelligenz, die unsere Rasse prägte. Und das ist nicht selbstverständlich, denn für viele Tiere genügt ein kleines Gehirn völlig. Die fehlende Intelligenz gleichen sie einfach mit Massenproduktion aus. „Dummheit siegt“, hieß es in einem Artikel (Quelle 19.07.2004), weil sie rascher in ihren Reaktionen ist.

Weil sie überall dort, wo die Konfigurationsmethode tauglich ist, durch deren Einfachheit und Schnelligkeit punkten kann.

Wir können uns dies freilich nicht mehr erlauben. Wir brauchen unseren großen Kopf, selbst wenn unsere Säuglinge dafür unreif auf die Welt müssen, um nicht jede Mutter bei der Geburt zu töten. Und deshalb steckt selbst unser Gehirn nicht mehr völlig in den Genen – denn es wird 10 Jahre lange, während der ersten Zeit der Kindheit, physikalisch auf seine Umgebung optimiert, um die dort herrschenden „Grundstrukturen der Information“ über die schnelle Konfigurationsmethode bewältigen zu können, sodass nur die „untypischeren“ Informationen dem flexiblen, aber langsameren aktiven Verarbeitungssystem verbleiben. (Physikalisch auf seine Umgebung optimiert: angesichts der vielen Kinder in den vielen Kriegsgebieten ein erschreckender Gedanke.)

Wir können uns diesen Luxus, die Konfigurationsmethode überall anzuwenden, nicht mehr erlauben, denn wir finden keine „vorwiegend stabile“ Umwelt mehr vor.

Weil wir sie selbst umformen, schneller und schneller - weg von den Bedingungen, die die Konfigurationsmethode braucht, um effizient zu sein:

Wir selbst machen unsere Umwelt veränderlicher, vielseitiger, unvorhersehbarer, weil wir Information vernichten. Wir selbst beeinflussen unsere Umgebung so sehr, dass sie „die Oma nicht wieder erkennen kann“ – und damit können auch die Rezepte, die „Oma noch wusste“, nicht viel mehr taugen. Doch es kommt noch schlimmer.

Unsere ganzen „Standardprogramme“ zur Informationsverarbeitung, Reflexe, Instinkte, Gefühle, sind auf eine natürliche, halbwegs stabile Umwelt optimiert, in der wir noch nicht wirklich existiert haben. Die freilich haben wir „nach unserem Bilde“ verändert – und zwar gründlich.

Ohne jedoch unsere eigenen Basisprogramme im Gehirn mit zu verändern.

Und das heißt?

Unser Ego wird langsam gewaltig überfordert.

Es muss Dinge tun, für die es schlicht nicht gebaut ist, es muss ständig mehr und mehr Widersprüche bearbeiten, weil die Qualität unserer Gefühle dramatisch sinkt. Wir haben sicher längst keine 80%-Trefferquoten mehr, außer möglicherweise, wenn wir in ländlichen Gegenden leben…

wo es schon immer so war, wie es heute ist (zumindest, soweit es die Oma noch weiß).

Wir haben mit unseren Kulturen, unseren neuen Technologien (Landwirtschaft, Viehzucht, Architektur, Werkzeugbau bis hin zum modernen Maschinenbau) eine Welt geschaffen, deren Modellierungsgrad sich erheblich von demjenigen einer natürlichen Umwelt unterscheidet: Es existieren weitaus mehr realisierte Zustände als zuvor, die wir miteinander in Beziehung setzen müssen, weil wir viele davon selbst aus der „Unwahrscheinlichkeit“ in die Realität gezogen haben.

Weitaus mehr Zustände…

zusammen mit der Tatsache, dass nicht Stabilität, nicht der Raum das „Originäre“ in unserem Universum ist, sondern die Veränderlichkeit, der Wechsel, die Zeit (Nur das Rauschen ist ewig)…

heißt dies, dass unsere Welt immer mehr ins „Rauschen“ gerät, weil die „zusätzlich realisierten“ Zustände natürlich ebenfalls in den Lauf der Dinge mit einbezogen wurden. Dieser Lauf der Dinge war aber in einer natürlichen Umgebung immer Teil eines biologischen Zyklus, immer regelmäßig,…

immer Information.

Mit jedem der Zustände, die in diesen biologischen Zyklen nicht vorkommen, die wir „trotz der Unwahrscheinlichkeit“ unserer natürlichen Umgebung durch unsere Technologie möglich gemacht haben, haben wir einen weiteren Schritt in diese biologischen Zyklen eingefügt, der diese nur stören kann.

Tatsache.

Denn diese biologischen Zyklen waren über Jahrmillionen optimiert – optimiert dadurch, dass sie „biologisch“ nützlich waren, dass sie funktionierten, gerade eben, weil sie Information waren und deshalb vom Leben verwendet werden konnten. Jeder Schritt zusätzlich kann praktisch nur eine Zerstörung solcher Optimierung sein.

Und das heißt?

Wir verlieren Information, weil wir Regelmäßigkeit verlieren. Im ständigen Wechsel von Zuständen kann einzig und allein Information, die wiederholbare, identifizierbare Veränderung, Stabilität aufbauen. Das, was wir alle so sehr wünschen und begehren, weil wir es so sehr zum Überleben brauchen: Stabilität…

vernichten wir selbst. Denn wir müssten jeden unserer neu hinzugekommenen Zustände mit seinen Wechselbeziehungen wieder in unser Wissen integrieren, um die Information, den identifizierbaren Regelkreis zu seiner Erzeugung, rekonstruieren und somit erhalten zu können – und damit, nach dem Bertrandschen Paradox - die Qualität unserer Entscheidungen nur auf dem „alten“ Stand zu halten!

Und das wird schwerer und schwerer, je mehr Menschen mit ihren eigenen individuellen Wissensbasen und ihren eigenen Zielen die Zustände dieser unserer gemeinsamen Realität zu ihren Gunsten verändern wollen.

Eine unlösbare Aufgabe?

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Wussten Sie auch das schon?

Religion – Alpha aut Omega?

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© bussole IV 2004 (außer Zitate)

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